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Bernhard Kuner
Control System Engineer
Tel (+49)30 8062 14981
Fax (+49)30 8062 14859
Department Operation Accelerator BESSY II (NP-A3)
Hannemann: Sommer 2011
Vor der "Ankerklause" ist es herrlich frisch, wie eigenlich immer, seit ich denken kann. Die Bedienung in ihrem schicken Südwester bring uns heißen Tee, während Kröten im nasskalten Moos über unsere Gummistiefel krabbeln. Pilze wuchern aus dem grünschimmligen
Schlick, der feucht die Häuserwände überzieht. Wolken in den Farben hellgrau, dunkelgrau und bleigrau türmen sich im stürmischen Nordwind zu beeindruckenden Formationen auf.
Doch kaum merklich begint sich die Atmosphäre dieses bis dahin so ungetrübt trüben Junitages zu verändern. Dass etwas nicht stimmt, bemerke ich zunächst daran, dass ich auf einma ohne Taschenlampe die Zeitung lesen kann. Natürlich denke ich erst mal an das
Naheliegende, ein heftiges Kältegewitter mit einer derart dichten Blitzfolge, dass es bequem zum Lesen reicht.
Dan deute Q. mit schreckgeweiteten Augen gen Himmel. Als ich dem Blick meiner Freundin folge, trifft mich schier der Schlag. Fast direkt über unseren Köpfen hat sich ein unerklärliclhes Wetterphänomen gebildet: ein nahezu kreisrunder Wolkenfleck in einem
so hellen Hellgrau, wie wir beide es noch nie gesehen haben. Unwillkürlich zitternd, fassen wir uns an den Händen: Was für ein entsetzliches Schauspiel!
Das Hellgrau wir noch heller. Wir wagen gar nicht mehr aufzublicken. Die ganze Umgebung ist auf einmal unnatürlich hell erleuchtet. Die Augen schmerzen. Ein paar Gäste rufen laut um Hilfe. Lokalbedienstete hasten herbei, ziehen verstaubte, dunkel getönte
Brillen aus dem Erste-Hilfe-Koffer und setzen sie den zum Teil ohnmächtig gewordenen Lokalgästen auf. Wer noch kann, stürzt nach drinnen, hinein ins rettende Dunkel.
Draußen aber wird es auf einmal warm. Wir bleiben. Wohin auch fliehen? Einer Naturkatastrophe kann man ohnehin nicht entkommen. Auche meine ich nun,als kleines Kind in einem Film über Afrika mal einen ähnlichen Leuchtkreis gesehen zu haben. Als ich meine
Mutter danach fragte, zog die mich allerdings in eine noch dunklere Ecke, bohrte mir eindringlich den Zeigefinger in die Brust und zischte scharf: "Das ist nichts! Du hast nichts gesehen!" Am nächsten Tag wurde der Fernseher aus dem Haus geschafft, und mit
der Zeit vergaß ich die Geschichte. Bis eben.
"Eigentlich ganz angenehm", meinte Q. nun und zieht sich den Regenmantel aus. Einen solchen Fatalismus hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Aber sie hat recht, die Temperatur ist wirklich angenehm. Und das Licht macht beinahe gute Laune. Irgendwie verstehe
ich jetzt, warum die Afrikaner oft einen fröhlicheren Eindruck machen als wir Europäer. Wenngleich das leider nur eine Momentaufnahme sein dürfte, eine Zwischenstufe, bevor wir in Kürze alle verglühen.
Denn es handelt sich sichtlich um eine Art Strahlung, die aus dem sich verstärkenden Loch in der schützenden Wolkendecke ungehindert auf uns einsengt. Und wir schwirren hier noch neugierig herum wie die Motten um die Kerzenflamme. Im Grunde ist das Wahnsinn,
denke ich, doch zum Glück schiebt sich nun eine bildschöne schwarze Wolke vor das geleißende Inferno. Vermutlich gerade noch rechtzeitig, bevor unsere pergamentartige weiße Haut in Flammen aufgeht.
"Mein Gott, was war denn das?" finde ich erst jetzt die Sprache wieder.
"Das war die Sonne", krächtzt es plötzzlich unheimlich vom Nachbartisch. Erst jetzt bemerke ich den uralten Mann mit dem schlohweißen langen Bart und der unnatürlichen, fast leicht gebräunt wirkeneden Runzelhaut. Er muß die ganze Zeit über unbeweglich dort
gesessen haben. Entweder hat er Nerven aus Stahl oder er ist längst schwachsinnig geworden.
"Die was?", fragt Q, "die Sonne?" Ihrem Tonfall nach zu schließen, fühlt sie sich gewaltig verarscht.
"Ja, hab ich auch verstanden: >Sonne<", pflichte ich ihr bei.
"Die Sonne" keckert der alte Mann. "Soll ich mal buchstabieren? S-O-N-N-E. Die Sonne. Sie scheint."
"Die Sonne scheint...? Sie scheint was? Sprechen sie doch weiter, Mann!"
"Früher hat die Sonne manchmal den ganzen Tag geschienen. Damals als ich noch ein kleiner Junge war. Besonders im Juni war oft schönes Wetter."
"Aber jetz ist doch schönes Wetter", deutet Q. auf die herlichen taubeneigroßen Hagelkörner, die der Sturm zu kunstvollen kleinen Häufchen zusammenbläst.
"Papperlapapp", schnarrt der Alte. "Früher war alles besser. Statt Algen und Schlick gab es Brot zu essen - das schmeckte zehnmal angenehmer. Deutschland war keine Insel, und es gab noch andere Länder gegen die man Fußball spielen konnte.."
"Wasserball", verbessere ich.
"Nein Fußball", raunt der Alte. Der Irrsinn lässt seine Stimme brechen. Wissend blicken wir einander an: "Sonne", "Brot", "Fußball" - inzwischen ist es sonnenklar, dass ihm wohl schon als Jugendlicher der Großteil seiner Gehirnzellen weggebrutzelt wurde.
Er weckt seinen schlafenden Schoßlurch, der die ganze Zeit angeleint unter dem Tisch geschlummert hat, und geht.. Bestimmte der "Sonne" entgegen. Armer alter Mann.